K a n z l e r g e d i c h t e h i n t e r g r u n d g e s p r ä c h

Was nicht in den Kanzlergedichten steht
Was Kanzlergedichte sind und was sie nicht sein können
Selbstbefragung

Fragt sich: Kanzlergedichte, wieso?

Gefragt mich: Politisch gejubelt und bejubelt wird im 21. Jahrhundert genauso wie in den Jahrhunderten vorher, politische Gedichte sind aber selten geworden. Man kann auch viele der politischen Gedichte nicht mehr so stehen lassen, sie sind mit ihren Verhältnissen alt geworden. Gründe für politische Gedichte gibt es aber nach wie vor. Sie müssen nicht einmal so heißen, sie brauchen es nur zu sein.

Fragt sich: Also literarische Opposition statt politischer?

Gefragt mich: Wenn sich ein Minnesänger wie Oswald von Wolkenstein vor 600 Jahren mit den Verhältnissen seiner Zeit in seinen Liedern kritisch auseinandersetzen konnte und bis heute damit fasziniert, so sollte man in der Gegenwart nicht auf diese Möglichkeit verzichten. Gedichte sind auch Zeitkapseln von Lebensgefühlen, die man später wiederentdecken und mit- und nacherleben kann.

Fragt sich: Ist es denn überhaupt sinnvoll, sich in Gedichtform mit politischen Ereignissen und politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten auseinanderzusetzen?

Gefragt mich: Es stellt sich die Frage, ob es in den Kanzlergedichten überhaupt um politische Auseinandersetzungen einem herkömmlichen Verständnis nach geht. In einem engeren Sinn sicher nicht, denn dann müssten in den Gedichten Gestaltungsvorschläge oder ähnliches zu finden sein und das ist ganz sicher nicht der Fall. Die Kanzlergedichte sind am ehesten in einem Zwischenraum zwischen politischer PR, Gesellschaftsklatsch und Chronikteil angesiedelt.

Fragt sich: Ein Beispiel?

Gefragt mich: In Band zwei, in den Kanzlernachfolgegedichten, befindet sich ein Gedicht über die Annexion der Krim, in diesem Gedicht lungert ein Verdächtiger vor einer Bank herum und bereitet sich auf seinen Banküberfall vor. Ob es überhaupt und wie es dazu kommt, weiß man zu diesem Zeitpunkt nicht, Namen werden keine genannt.

Fragt sich: Es werden keine Namen genannt? Es geht doch in den Kanzlergedichten um Menschen mit besonderer Bedeutung.

Gefragt mich: Die Kanzler, Premierminister oder Präsidenten und Kanzlerinnen, Premierministerinnen oder Präsidentinnen und alle, die es gerne wären, kommen in den Kanzlergedichten in ihren Funktonen vor, es geht nicht darum, sie persönlich zu charakterisieren, sondern ihre Rollen. Nur in Ausnahmefällen werden in oder zu den Gedichten Namen genannt, gewidmete Gedichte gibt es aber keine.

Fragt sich: Sind das jetzt in chronologischer Fortsetzung mit jedem Kanzlergedichtband immer nur weitere Kanzlergedichte?

Gefragt mich: Jeder Kanzlergedichtband hat einen anderen Grund und alle drei zusammen geben sozusagen "mitgeschrieben" die Entwicklungen in den letzten 25 Jahren wieder. Band eins geht vom Kanzlerschweigen über das Unaussprechliche aus, Band zwei enthält ein Register der handelnden Personen und lädt zu einem Personensuchspiel ein und Band drei fasst die politische Lage, die poetische Lage und die gesellschaftliche Lage zusammen, somit die Hintergründe zu den Kanzlergedichten.

Fragt sich: Welche Besonderheiten gibt es noch?

Gefragt mich: Der Name Donald Trump wird niemals nirgends namentlich ausgesprochen, nur der seiner Frau Melania. Donald Trump findet lediglich als Randfigur im Abgesang auf das letzte Vierteljahrhundert in Band drei Erwähnung. Die größte Besonderheit aller Gedichte aller drei Bände besteht aber darin, mit welchen Darstellungen Politik gemacht werden kann.

Fragt sich: Das klingt sehr nach Dokumentation, nach festgehaltener Zeitgeschichte, chronologisch aneinandergereiht.

Gefragt mich: In Band drei im Schlusswort wird ein abschließendes Mal zusammengefasst, was die Hauptgründe für die Kanzlergedichte waren. Ohne die sprachliche Herausforderung der politischen Werbung und politischen Erzählungen würde es sie nicht geben, wobei, das Wort "Herausforderung" kann man schon fast nicht mehr gebrauchen, seit der Pandemie ist alles nur noch "herausfordernd". Genau das ist aber auch einer der Gründe für die Kanzlergedichte, sich mit einem Vokabular zu beschäftigen, das ein anderes verdrängt, wie eben die Ablöse solcher Bezeichnungen wie "Problem" oder "Schwierigkeit" durch die Bezeichnung "Herausforderung". In vielen Fällen sind die Kanzlergedichte ein Zuende- oder Weitererzählen politischer Darstellungen über deren aktuelle Anwendungsfälle hinaus. Sie bekommen eine Selbstdarstellungsfläche, die für sie nicht vorgesehen war,

Fragt sich: Fortsetzung folgt keine?

Gefragt mich: Im Jahr der "Wende" in Österreich 2000 hat die erste Mitte-Rechts-Regierung seit 1945 das Vorgängermodell der Kanzler und anderer Spitzenpolitiker als Spitzenmanager durch ein von Sendungsbewusstsein getragenes Amtsverständnis ersetzt. Zugleich sind auch international Kanzler-, Präsidentschafts-, Premierminister- und Ministeramtsdarsteller in Erscheinung getreten, die man zuvor nicht für möglich gehalten hätte und die nach 2000 ihre Positionen festigen konnten. In Österreich setzte diese Entwicklung erst 2000 ein. Karrierekanzler und andere Spitzenpolitikerkarrieren gab es schon vorher, aber nicht so offenkundig als Durchgangsstation für noch höhere Aufgaben in der Wirtschaft oder als politische Beraterinnen und Berater. Es wurde mehr öffentlicher Besitz verkauft als je zuvor. Jetzt ist nichts mehr davon da, kein Sendungsbewusstsein und nichts mehr zu verkaufen. Jetzt sind Krisenmanager gefragt, und nicht nur wegen Krisen aus eigener Produktion. Der dritte Band hätte auch erst ein paar Jahre später erscheinen können, aber die amtierenden österreichischen Kanzler, um die es in den Kanzlerdichten ging, hatten es mit ihren Amtsperioden eilig, sie waren zumeist früher mit ihnen als geplant fertig, zuletzt mit gesteigertem Tempo.

Fragt sich: Und das war es dann? Nie wieder politische Gedichte?

Gefragt mich: Mit eingespielten Mustern ist es vorerst einmal vorbei, und daran wird sich in den nächsten Jahren nicht viel ändern. Politische Gegensätze werden wieder deutlicher als in den letzten Jahrzehnten auftreten, und natürlich wird die Literatur darauf reagieren. Auch die politische PR wird nicht so bleiben, die Aggressivität der politischen Sprache wird zunehmen und die politische Werbung durch die politische Propaganda ersetzt werden. Meine Hoffnung ist, es gibt auf autoritäre Entwicklungen demokratische Antworten. Es wird gar nicht anders gehen, als dass die Literatur dabei eine Rolle spielt.

Fragt sich: Weiß das auch die österreichische Politik?

Gefragt mich: Wer die groß angekündigte "Zukunftsrede" des amtierenden Bundeskanzlers "an die Nation" über die kommenden Jahre bis 2030 im März des heurigen Jahres gesehen und gehört hat, weiß, warum der abschließende Band 3 der Kanzlergedichte "Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste" heißt. Die Zeit der Kanzler, die sich als Spitzenmanager verstehen, der Karrierekanzler oder der Kanzler mit Sendungsbewusstsein ist endgültig vorbei. Der derzeitige Kanzler versteht seine Rolle als Bewahrer der bestehenden Verhältnisse, so lange es nur geht. Wobei das alles genauso für seine unmittelbaren Kurzzeit-Vorgänger gilt und für deren Vorgänger. Und es gilt vor allem für den letzten Kanzler mit sowohl Karriere- als auch Sendungsbewusstsein, auf den der Titel der Kanzlergedichte 3 jedoch in umgekehrter Reihenfolge zutrifft: "Das Kanzlerneueste. Kanzlerreste".
MATERIALEN
Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste
Kanzlergedichtehintergrundgespräch
Kanzlerübersicht
Kleine Zeitung. Auf dem ...
Neue Südtiroler Tageszeitung
Inhaltsangabe Profil 11/2023
Links zu Besprechungen (inkl.
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